Ich habe einen großen Teil der Kommentare zu diesem Film gelesen und leider eine unbeschreibliche Enttäuschung erlebt. Die Diskussion unter dem Eintrag zu Lars von Triers Meisterwerk, das von Anfang bis Ende mit philosophischen Botschaften gefüllt ist, hat sich in eine Art Religions- und Ethikunterricht verwandelt. Überall fliegen Verse und Suren herum. Was ihr gleich lesen werdet, enthält Spoiler, nur zur Warnung.
Mir ist bewusst, dass wir als Zivilisation in Sachen Philosophie hinterherhinken (die ganze Welt natürlich, nicht nur Österreich), aber das hier ist wirklich übertrieben. Ja, der Regisseur hat auch religiöse Elemente eingebaut, aber das ist keineswegs das Hauptthema des Films. Dass Grace, die über die Grausamkeit der Dorfbewohner reflektiert und sagt: „Ihr Verhalten ist nicht überraschend. Sie handeln nur gemäß ihrer Natur. Wenn ich genauso lange hier gelebt hätte wie sie, wäre ich nicht anders“, als Jesusfigur interpretiert wird, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Grace ist keine Figur, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen ihre Vergehen zu vergeben. Sie versucht lediglich, deren Taten als Ausdruck ihrer Natur zu betrachten und ihnen mit Nachsicht zu begegnen.
Der Film arbeitet von Anfang an darauf hin, Friedrich Nietzsches These zu bestätigen, die man grob so zusammenfassen könnte: „Der Mensch ist ein Raubtier. Moral ist nur eine Maske, die von eigennützigen, bösartigen Moralaposteln aufrechterhalten wird.“ Bereits zu Beginn glaubt Grace irrtümlich, die Bewohner des Dorfes seien gute Menschen, doch Chuck sagt ihr:
„Du hältst sie für gute Menschen. Ich habe das auch gedacht, als ich mein Leben in der Großstadt hinter mir ließ. Aber der Mensch ist überall derselbe – ein Raubtier.“
An diesem Punkt tritt das Konzept des Mitgefühls in den Vordergrund. Wie bereits erwähnt, betrachtet die Hauptfigur Mitgefühl als eine Tugend und wirft ihrem rücksichtslosen Vater Arroganz vor. Doch genau hier prallt sie mit voller Wucht gegen Nietzsches Mauer. Wie bekannt ist, vertritt Nietzsche die Ansicht: „Wahre Arroganz liegt im Erweisen von Mitleid.“ Die Szene im Auto zwischen Grace und ihrem Vater ist durch und durch mit Nietzsche'schen Argumenten gespickt – er könnte genauso gut Passagen aus Also sprach Zarathustra oder Jenseits von Gut und Böse vorlesen.
Grace gerät ins Wanken, ihr gesamtes Weltbild wird erschüttert. Während sie ihren Vater der Arroganz bezichtigte, erkennt sie nun, dass sie selbst in eine viel tiefere Form der Überheblichkeit verstrickt ist und dass ihr Mitleid niemandem hilft – nicht einmal denen, die es empfangen. In diesem Gespräch mit ihrem Vater werden zudem auffällige Anspielungen auf Nietzsches Konzept des „Willens zur Macht“ gemacht. Schließlich gelangt sie zu der Überzeugung, dass es notwendig ist, die Dorfbewohner zu beseitigen – nicht aus Rachsucht, sondern aus einer kalten, nüchternen Logik heraus. Auch dieser Aspekt sollte durch die Linse von Nietzsches Übermensch betrachtet werden.
Der Übermensch kann nur entstehen, wenn die bisherigen Menschen weichen. Zu Beginn des Films misst Grace dem Thema Bildung große Bedeutung bei und spricht über verschiedene pädagogische Konzepte. Doch am Ende stellt sich all das als nutzlos heraus. Sie erkennt, dass diese Menschen nicht erzogen werden können und beseitigt werden müssen. Nietzsche erklärt genau diesen Gedanken ausführlich in Also sprach Zarathustra: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss.“ Der Übermensch kann nur kommen, wenn diese Menschen verschwinden.
Ich habe meine Gedanken etwas komprimiert, aber ich denke, meine Kernpunkte sind klar geworden. Falls ich Fehler gemacht habe, verzeiht mir.