Das folgende Schriftstück beschreibt dieses Phänomen auf eine außergewöhnlich gute Weise. Wenn wir uns als Zugreisende betrachten, das Leben als den Zug, die Zeit als die zurückgelegte Strecke und die Wendepunkte des Lebens als unsere Bahnhöfe, dann ergibt sich ein beeindruckender Text. Lest ihn ohne Ermüdung oder Langeweile – ihr werdet sehen, dass weder diese sieben Stationen von uns abhängen noch das Leben uns erlaubt, sie rechtzeitig wahrzunehmen.
Die Reise des Zuges beginnt in der Entbindungsstation eines Krankenhauses oder in einem einfachen Zimmer, das von einer Petroleumlampe erhellt wird. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung, die Räder drehen sich zunehmend schneller – der Lebenszug rollt unaufhaltsam. Es ist euer Zug, und ihr seid seine Passagiere. Die Fahrt ist lang: von der Dunkelheit der Nacht ins Licht des Tages, von den zarten Knospen des Frühlings zu den fallenden Blättern des Herbstes, vom geschäftigen Lärm der Städte in die stille Einsamkeit der Steppe.
Doch während der Zug dahineilt, hält er an Zwischenstationen, um kurz innezuhalten. Er stellt euch vor die Wahl: aussteigen oder weiterfahren? Ihr blickt aus dem Fenster. Wer weiß, wie oft ihr bereits hinausgesehen habt, während der Lebenszug vorbeizog. Doch die Zeit zum Entscheiden ist knapp.
Zählt man die erste Station – die „Geburt“ – nicht mit, so hält der Zug an der zweiten Station, die euch mit verlockenden Schildern die erste Begegnung mit der eigenen Sexualität anbietet. Ihr seid noch jung, ein unbeschreibliches, warmes Kribbeln breitet sich in euren Adern aus. Die Nervosität und die ängstlichen Flügelschläge der Unsicherheit treten in den Hintergrund – das Leben will gelebt werden. Der Zug pfeift, unerforschte Gefühle bleiben zurück. Die zweite Station verschwindet langsam hinter dem Horizont, und die Reise geht weiter...
An der dritten Station gibt es die Möglichkeit, für einen Freund alles stehen und liegen zu lassen und auszusteigen. Ihm in schwierigen Zeiten beizustehen, mit ihm in Kämpfe zu ziehen – Freundschaft in ihrer reinsten Form zu leben. Falls nötig, das gesamte Gepäck im Abteil zurückzulassen, allein gelassen mit der einsamen Eitelkeit des eigenen Koffers. Doch die Zeit drängt, die noch zu erreichenden Ziele rufen. Die dritte Station schrumpft in der Ferne, bis sie verschwindet.
An der vierten Station locken die materiellen Verführungen der Welt. Der Reichtum, der euch erwartet, ist ebenso verführerisch wie gefährlich – mit jedem Gewinn steigt das Risiko, von einem unbarmherzigen Sturm hinweggefegt zu werden. Der Reichtum und die Gefahr grinsen euch Seite an Seite an. Ihr greift nach dem kleinen Geldbeutel in eurer Brusttasche und lasst den Reichtum und das Risiko zurück – die Fahrt geht weiter.
Die dröhnenden Geräusche der fünften Station sind schon aus weiter Entfernung zu hören. Dort angekommen, sieht man das Chaos: hochgehaltene Plakate, geballte Fäuste. Der Widerstand gegen Unrecht und Unterdrückung erfüllt die Luft mit einer leidenschaftlichen, aber schmerzhaften Aufbruchsstimmung. Wer sich für den Kampf entscheidet, nimmt jedes Leid in Kauf – oder bleibt ängstlich in seinem Sitz, um sein Ticket für die bequeme Reise der Mittelschicht nicht zu verlieren. Würden alle Passagiere aussteigen, könnten sie gemeinsam die Welt verändern, ihre Stimmen würden die düsteren Gesänge der Resignation übertönen. Doch in den versprochenen Stationen warten Familie und Kinder. Die Reise geht weiter, das Ziel bleibt ungewiss.
An der sechsten Station erfüllt der Duft rebellischer Blüten die Luft. Die Liebe zeigt sich in voller Blüte – und lehrt, dass sie stets mit Schmerz verbunden ist. Doch nichts in dieser Welt ist ohne Preis. Die Knospen entfalten sich in der fruchtbaren Erde, genährt vom Stahl der Entbehrung. Und wenn sie sich öffnen, schlagen in jeder Brust Schmetterlinge ihre Flügel aus, bereit, sich in das Abenteuer des Lebens zu stürzen. Die Liebe besiegt den Schmerz mit der Unschuld eines Kindes. Doch der Reisende am Fenster hat keine Geduld für lange Prüfungen. Ein Pfeifen durchbricht die Steppe, und der Zug setzt seine Fahrt fort...
Dann kommt die siebte Station. Der Zug hält. Lokführer, Schaffner, alle verlassen den Ort. Plötzlich ist die gesamte Welt leer. Wen erwartet dieses einsame Begräbnis in der Ödnis? Es gibt kein Weiter und kein Zurück mehr. Keine Wahlmöglichkeit. Dies ist die Endstation. Die Schmerzen der Reue brechen mit voller Wucht herein: „Hätten wir doch nur an einer der vorherigen Stationen angehalten...“ Doch nun ist es zu spät. Der Zug bleibt zurück, verlassen, einsam und verloren in der endlosen Weite.
Man spricht oft davon, einen Zug zu verpassen – doch in Wirklichkeit kann man keinen Zug verpassen. Er fährt ohnehin weiter, die Zeit vergeht. Ihr müsst nur wissen, an welchen Stationen ihr anhalten müsst. Verpasst das Leben nicht. Lebt es, so gut ihr könnt, an den Zwischenstationen.