Johann Wolfgang von Goethe…
Ein Schriftsteller, der stark von Jean-Jacques Rousseau beeinflusst wurde und diesen Einfluss als eine Art Katalysator zur Erreichung positiver Ziele nutzte.
An Zelter,
Weimar, 21. November 1830
"Nemo ante obitum beatus"(2) – ein in die Weltgeschichte eingegangener Satz, aber vergebens: Er sagt dem Menschen nichts. Vielleicht könnte man ihn vertiefen und sagen: „Sei bis zum Tod auf jede Prüfung gefasst!“
Du bist ebenso wie ich durch solche Prüfungen gegangen. Man könnte fast sagen: Das Schicksal scheint zu glauben, dass unsere Nerven, unsere Adern – ja, all unsere anderen Organe – nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Eisen(3) bestehen.
Ich danke dir für deinen Brief. Vor vielen Jahren, als mich eine ähnliche Botschaft erreichte, war es meine Aufgabe, dir eine solch schmerzliche Nachricht(4) zu überbringen.
Lassen wir das Thema nun ruhen – aber wird es uns gelingen?
Was diese große Katastrophe für mich besonders bedeutsam und befremdlich macht, ist Folgendes: Mit dem nahenden neuen Jahr hatte ich geplant, all meine Lasten auf die Schultern eines jungen Menschen zu übertragen, der noch ein langes Leben vor sich hat. Nun aber muss ich sie selbst weitertragen – mit noch schwereren Schritten.
Was den Menschen in solchen Momenten aufrecht hält, ist wohl das tief verankerte Pflichtgefühl. Ich achte derzeit besonders darauf, fest zu stehen, denn wenn die Gesundheit bewahrt bleibt, ist alles andere leichter. Ein kräftiger Körper, ein klarer Geist und ein Wille, der weiß, wohin er sich richten soll – dann gibt es nichts zu fürchten.
…
Allen, die mit mir fühlen, sende ich meine aufrichtigen Grüße.
(Briefe / Goethe)
(1) Karl Friedrich Zelter (1758–1832): Professor für Musik an der Berliner Kunstakademie. Die Freundschaft zwischen Goethe und Zelter begann 1799 und wurde mit der Zeit immer inniger, sodass Zelter in den letzten 25 Jahren seines Lebens Goethes engster Vertrauter wurde. Diese Verbindung beeinflusste Goethes Musikverständnis stark. Goethe erfuhr über Zelters Briefe von den künstlerischen Bewegungen in Berlin und den Neuerungen in der Musikwelt. Nach Schiller war Zelter derjenige, mit dem Goethe den meisten Briefkontakt pflegte, und viele seiner Gedichte wurden von Zelter vertont.
(2) Ein Zitat von Solon an Krösus (überliefert von Herodot): „Nenne niemanden glücklich, solange er noch lebt.“
(3) Goethe erhielt am 10. November die Nachricht vom Tod seines Sohnes August in Rom.
(4) 1816 überbrachte Zelter Goethe die Nachricht vom Tod seiner kleinen Tochter.