Gemäß den mythologischen Legenden wurde die antike Stadt Sybaris nach dem Untergang Trojas gegründet. Kassandra, die im Apollon-Tempel von Ajax vergewaltigt worden war, brachte Sangaris zur Welt, der als Wanderer bekannt wurde. Nach dem Untergang seines Schiffes im Mittelmeer trieb er tagelang auf dem Wasser und erreichte schließlich die Südküste Italiens. Mit seinem letzten Atemzug gründete er Sybaris, eine der frühesten griechischen Kolonien der Region, zusammen mit Kroton, Taras* und Rhegion. Heute befindet sich in der Nähe der antiken Stadt das Dorf Sibari.

Lässt man die surreal anmutenden und oft unglaubwürdigen Gründungsmythen beiseite, so zeigen historische Berichte, dass Sybaris in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. von griechischen Siedlern aus Achaia, einer Region auf der Nordseite der Peloponnes, gegründet wurde. Sowohl Aristoteles als auch Diodoros und der berühmte Geograph Strabon berichten, dass die achaiischen Kolonisten die Stadt inmitten der fruchtbaren Ebenen zwischen den Flüssen Crathis und Sybaris errichteten.

Gegründet wurde Sybaris vermutlich um 720 v. Chr. und war ein Vorreiter der griechischen Kolonisation in Magna Graecia, dem heutigen Süditalien. Neben Sybaris entstanden in dieser Region weitere bedeutende Kolonien wie Poseidonia (später Paestum), Pixus und Skidros. Der dänische Philologe und Demograph Mogens Herman Hansen schätzte die Stadtfläche auf etwa 500 Hektar. Im 6. Jahrhundert v. Chr. erlebte Sybaris seine Blütezeit und zählte mit einer Bevölkerung von 250.000 bis 300.000 Einwohnern zu den größten Metropolen der antiken Welt.

Sybaris dominierte die Region und stand in engem Handelsaustausch mit anderen griechischen Städten wie Sikyon, Argos, Elis und Milet. Die Stadt profitierte von ihren überaus fruchtbaren landwirtschaftlichen Flächen, auf denen unter anderem Wein, Oliven und Baumwolle angebaut wurden. Ihr enormer Wohlstand machte Sybaris zu einer der reichsten Städte des Mittelmeerraums.

Die Stadt wurde oligarchisch-demokratisch regiert. Das politische System erinnerte in gewisser Weise an Sparta, auch wenn es nicht identisch war. Die Gerusia, ein Rat aus 22 der ältesten und wohlhabendsten Männer der Stadt, bestimmte die Innen- und Außenpolitik sowie rechtliche Angelegenheiten. Doch mit zunehmender Zeit geriet Sybaris in Konflikt mit anderen griechischen Kolonien in Magna Graecia. Besonders verhängnisvoll war der Bruch mit den ehemaligen Verbündeten Kroton und Metapontion*, nachdem Sybaris sich weigerte, die Kriegsbeute gerecht zu teilen. Diese Rivalitäten verschärften sich und führten schließlich zur Zerstörung der Stadt.

Neben seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung spielte Sybaris auch in der Rechtsgeschichte eine herausragende Rolle. Im Jahr 550 v. Chr. erließ die Gerusia ein bemerkenswertes Gesetz, das als die erste bekannte Regelung zum geistigen Eigentum gilt. Dieses Gesetz besagte, dass ein Koch, der ein neues Gericht erfindet, für ein Jahr das exklusive Recht darauf hat. Kein anderer Koch durfte es in dieser Zeit nachkochen, und alle Gewinne aus diesem Gericht gingen an den Erfinder. Dies förderte sowohl Kreativität als auch wirtschaftliche Anerkennung und gilt als ein Meilenstein in der Geschichte des Patentrechts.

Doch wie jede Hochkultur erlitt auch Sybaris einen dramatischen Niedergang. Während Rom sich von der Tyrannei des Lucius Tarquinius Superbus befreite und zur Republik wurde, übernahm der Tyrann Telis (oder Telos) die Macht in Sybaris. Er verbannte 500 der wohlhabendsten Bürger in das benachbarte Kroton, jedoch unter der Bedingung, dass sie im Falle eines Krieges zurückgegeben würden. Als Sybaris 509 v. Chr. von Metapontion angegriffen wurde, forderte Telis die Rückkehr der Verbannten. Doch Kroton weigerte sich, was möglicherweise durch den Einfluss des berühmten Pythagoras und anderer prominenter Bürger unterstützt wurde. Stattdessen erklärte Kroton Sybaris den Krieg.

Strabon berichtet von einer enormen Streitmacht von 300.000 Sybaritern, die gegen Kroton marschierten, während Kroton unter der Führung des Archons* Milo eine Armee von 80.000 Mann mobilisierte. Trotz des zahlenmäßigen Ungleichgewichts siegte Kroton in der Schlacht. Neun Tage später wurde Sybaris zerstört. Laut Strabon sollen bei der Plünderung der Stadt bis zu 200.000 Menschen ums Leben gekommen sein.

Die wenigen Überlebenden flohen in ihre ehemaligen Kolonien, doch ihr Versuch, Sybaris zurückerobern, scheiterte. Bis 445 v. Chr. war die Stadt vollständig verlassen und wurde durch die neue griechische Kolonie Thurii ersetzt.

Die Geschichte von Sybaris gibt uns eine Vorstellung davon, was hätte geschehen können, wenn Rom die Samnitenkriege oder die Punischen Kriege verloren hätte. Trotz seiner einstigen Vormachtstellung ist Sybaris heute kaum noch bekannt und wird selten unter den bedeutendsten antiken Städten aufgeführt. Denn Geschichte wird stets von den Siegern geschrieben.